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Interview: Industrie 4.0 in der Einzelfertigung

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Interview: Industrie 4.0 in der Einzelfertigung


productivITy hat mit Ingo Körner gesprochen. Er ist Geschäftsführer der Broetje-Automation GmbH, die kundenindividuelle Fertigungslinien für die Luftfahrtindustrie herstellt.

Frage: Herr Körner, bei der Broetje-Automation GmbH werden kundenindividuelle Lösungen in Einzelfertigung hergestellt. Beschreiben Sie uns doch bitte die Herausforderungen, die dabei entstehen.
Ingo Körner: Wir wickeln unsere Aufträge als Projekte mit einer Laufzeit von ein bis drei Jahren ab. Im Projekt unterliegen viele der Rahmenbedingungen und Anforderungen im Zeitablauf Veränderungen, sei es in Form veränderter Kundenanforderungen, rechtlicher Bedingungen, technischer Lösungen oder durch den Wechsel von Mitarbeitern. Im Kern geht es im Projektgeschäft darum, überwiegend überraschend – im Sinne von ungeplant – auftretende Veränderungen zu antizipieren oder zumindest in der Lage zu sein, zügig und professionell geeignete Lösungen zu finden. In diesem Umfeld können Prozesse niemals mit vertretbarem Aufwand universell sein, sie müssen vielmehr überraschungsrobust sein, in dem Sinne, dass sie die zügige und professionelle Lösungsfindung befördern.

Frage: Sie sprechen von „Überraschungen“ – inwiefern haben diese eine Auswirkung auf die Prozessplanung?
Ingo Körner: Je höher die Unterschiedlichkeit der einzelnen Produkte, Bedarfe, Lieferzeiten und Kunden ist, desto mehr unterscheiden sich die individuellen Aufgabenstellungen und die jeweils gefundenen Lösungen. Wenn dann noch Komplexität im Sinne von Überraschungen hinzutritt, geht es nur noch darum, im richtigen Moment das Richtige zu tun. Wobei „das Richtige“ jedes Mal anders aussehen kann. Unser Schwerpunkt liegt deshalb darin, unsere Mitarbeiter in die Lage zu versetzen, vor dem Hintergrund der jeweiligen Einzigartigkeit der Situation das Richtige zu tun. Das geht nicht ohne Nachdenken, die Konsultation von Kollegen, konstruktive Diskussionen oder das strukturierte Denken in Szenarien.

Frage: Komplexität ist ein gutes Stichwort! Mithilfe von Industrie 4.0 soll ja unter anderem auch die Komplexität in der Produktion gesenkt werden. Es ist ja auch eins der großen Themen in der Produktion. Was sagen Sie zu diesem Trend?
Ingo Körner: Nach meiner Einschätzung hat jede Zeit ihre Schlagworte oder Trends. Positiv ist, dass sich damit viel Energie bündeln lässt und große Schritte möglich werden. Wichtig scheint mir dabei, die Dinge nie pauschal, sondern differenziert zu betrachten und zu schauen, wo jeweils die Grenzen liegen.

Frage: Welche Industrie 4.0-Vorteile sehen Sie für Einzelfertiger?
Ingo Körner: Sofern wir Industrie 4.0 als die perfekte Vernetzung aller am Produktionsprozess beteiligter „Ressourcen“ verstehen, würde sie uns erst dann helfen können, wenn die IT in der Lage wäre, im Fall von Überraschungen die menschliche Entscheidungsqualität zu übertreffen. Vermutlich würde der dafür erforderliche Programmierungsaufwand für Produkte in Stückzahl eins nicht wirtschaftlich zu betreiben sein. Wir vertrauen deshalb weiterhin der Leistungsfähigkeit unserer Mitarbeiter, im Umgang mit Überraschungen die besten Lösungen zu generieren und sehen den Einsatz von Industrie 4.0 in der Einzelfertigung eher kritisch.

Frage: Wie sieht es denn mit assistierten Entscheidungen aus? Können Sie Software oder andere Technologien verwenden, die Ihren Mitarbeitern bei der Entscheidungsfindung, Entscheidungsausführung und Umgang mit Überraschungen helfen?
Ingo Körner: Da haben wir zum Wort „Entscheidungen“ unterschiedliche Vorstellungen. Gerne verstehen wir darunter trivialisierte Fragen, welcher Schraubentyp einzudrehen ist oder, ob wir als nächstes rechts oder links fahren sollen. Allerdings weiß jeder, der einigermaßen bewusst Auto fährt, dass er sich selbst bisweilen anders entscheidet, als es sein Navigationsgerät ihm vorschlägt. Damit wird klar, es gibt über Straßenart, Entfernung und Verkehrslage hinaus Entscheidungsparameter, die wir bisher nicht automatisiert abbilden können. Und sei es, dass wir unsere Entscheidung aus einer spontanen Laune heraus treffen, „dass wir eine schöne Strecke schon lange nicht mehr gefahren sind.“ Übertragen auf uns: wenn es darum geht, zu welcher Tageszeit und in welcher Atmosphäre ich zum Kunden in welchem Ton was sagen sollte, damit er in der von mir gewünschten Weise reagiert, müsste eine technische Assistenz soziale Interaktion modellieren können. Und davon sind wir ja noch ein bisschen entfernt…

Frage: Gut, bei der Einzelfertigung sehen Sie also noch enorme Herausforderungen, die derzeit noch nicht bzw. nur in Ansätzen umgesetzt werden können. Wie sieht es denn aber bei den Maschinen aus, die Sie produzieren? Diese sind ja nicht für die Einzelfertigung gedacht.
Ingo Körner: Auf unseren Maschinen und Anlagen werden Flugzeugstrukturbauteile wie Rumpfschalen, Leitwerke, Landeklappen und Flügel in Kleinserie gefügt, montiert und miteinander verbunden. Damit tragen wir unter anderem dazu bei, bisher manuelle Montageschritte zu automatisieren.

Frage: Bieten sich denn Ihrer Meinung nach hier Industrie 4.0-Ansätze an?
Ingo Körner: Hier bieten sich Industrie 4.0-Ansätze sicherlich an! Schließlich geht es in der Flugzeugproduktion zum einen um Sicherheit und Genauigkeit und damit um die langfristige Dokumentation aller Produktionsdaten. Zum anderen werden die Produkte unserer Kunden zwar in kleinen Stückzahlen gefertigt, weisen dafür aber relativ lange Produktlebenszyklen auf. So können sich Einrichtkosten und Programmierungsaufwand eines Systems über 20 bis 25 Jahre amortisieren.

Frage: Statten Sie denn Ihre Produkte bereits mit Industrie 4.0-Komponenten aus?
Ingo Körner: Wir haben Sensoren in unsere Maschinen integriert, die den Produktionsprozess vollumfänglich überwachen und steuern. Zudem ermitteln und speichern wir die Leistungsdaten und Ergebnisqualität aller ausgeführten Operationen. Damit können wir zum Beispiel den Maschinenbediener im richtigen Moment warnen, dass der aktuelle Bohrer in der Maschine verschlissen ist. Im Vergleich zu heute mit vorbeugendem Bohrertausch können damit die Einsatzzeiten der Bohrer deutlich gesteigert werden.

Wir selber nutzen die bei unseren Kunden gewonnen Daten dafür, Schwerpunktthemen für die Weiterentwicklung unserer Produkte festzulegen. Schließlich bleibt unser Ziel, unseren Kunden zu immer höherer Wirtschaftlichkeit in der Produktion zu verhelfen.

Vom Grunde her ist damit der Boden bereitet. Im Fall einer geeigneten Vernetzung mit den Daten anderer Produktionsmaschinen könnten unsere Kunden schon heute von übergreifenden Industrie 4.0-Lösungen zur Gesamtsteuerung ihres Produktionssystems profitieren.

Ob dem verbalen Trend Industrie 4.0 am Ende tatsächlich die systemische Umsetzung folgt, wird wie oben ausgeführt ganz erheblich davon abhängen, ob sie mit wirtschaftlich vertretbarem Aufwand möglich sein wird. Und die Wirtschaftlichkeit wird jeweils wesentlich von der Stabilität der Produktstrukturen, den produzierten Stückzahlen und dem Grad möglicher Überraschungen abhängen. Je mehr Überraschungen möglich sind, desto komplizierter werden die Entscheidungsalgorithmen sowie die dazugehörigen Sensitivitätsfilter. Wenn wir bedenken, dass wir nicht weniger versuchen, als auf sozialer und beruflicher Erfahrung basierende menschliche Entscheidungsintelligenz in komplexen Systemen nachzubilden und das Projekt Deep Blue bei IBM bereits in den 90er Jahren kolportierte 20 Million USD-Dollar verschlang, um zwei Hände voll Schachregeln nachzubauen, wird vorstellbar, wie teuer möglicherweise Entscheidungsregeln sein werden, die eine lebende Produktion steuern sollen, selbst wenn wir heute technisch 20 Jahre weiter sind.

Herr Körner, vielen Dank für das Gespräch.

Dieses Interview ist in der Zeitschrift productivITy (Ausgabe 5-15) erschienen. www.productivity.de

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